Rußland – Allgemeine Einführung

Der russische Automobilbau bis 1918 und auch noch in den Zwanzigerjahren war kümmerlich und beschränkte sich auf Nach- und Lizenzbauten ausländischer Muster.
Auch nach 1930 behielt man den Nachbau bei, produzierte hierbei vor allem LKW und Traktoren (Rad und Kette) in immer größeren Mengen, dagegen relativ wenige PKW. Ab 1939 setzte die russische Kriegsvorberetung ein, die Traktoren- und PKW-Produktion wurde zurückgefahren, man konzentrierte sich auf den Bau von militärisch wichtigen Fahrzeugen.
Gewaltig ist die Zahl der ab 1930 produzierten Panzer, die in den 1930er Jahren weit über 50% der Weltproduktion ausmachte.
Die Daten sind in zwei Tabellen sortiert:

Rußland – Kraftfahrzeuge bis 1918, Tabelle

Sowjetunion, Kraftfahrzeuge 1919 – 1945, Tabelle

Die Auswertung der unten zitierten postsozialistischen Quellen ergab, daß mit einigen Legenden aufgeräumt werden muß:

– Die Gesamtzahl der bis Kriegsausbruch 1914 produzierten Fahrzeuge betrug nicht 3.000, sondern maximal 1000 Stück, während des Krieges (1914-8) kamen weiter max. 1.500 Stück dazu, davon rd.1000 ab 1916/17 in Lizenz montierte FIAT-LKW.
– Die Firma AMO in Moskau produzierte LKW nicht erst seit ca.19254, sondern bereits seit 1917, ist also keine „Errungenschaft des Sozialismus“. Allerdings haben es die Sozialisten von 1920-23 nicht fertiggebracht, dort einen einzigen Neuwagen zu produzieren, ab 1924 mußte wieder das mittlerweile völlig veraltete Kriegsmodell Fiat 15ter bis 1930 gefertigt werden, und zum erneuten Erreichen der im 1.Weltkrieg produzierten Stückzahlen brauchte man vier Jahre.

Russische Fahrzeuge waren gerühmt für ihre einfache, robuste und unkomplizierte Bauweise, aber bei ihren Besitzern auch gefürchtet ob der miserablen Qualität der Fertigung. Im Gegensatz zu Produktionszahlen, die man kurzerhand vom grünen Tisch weg als zu erfüllende Planziffer befehlen und dann anhand Stückzahlmeldungen nachprüfen konnte, ist eben Qualität nicht in Zahlen meßbar, und häufig wird ein Fahrzeug, von dem jeder wußte, daß es mangelhaft war, gleichwohl abgeliefert worden sein, um auf diese Art und Weise den Plan zu erfüllen oder überzuerfüllen. Hinzu kam das Problem, daß im Sozialismus, der alles übertreffenden und daher unbesiegbaren Ideologie auch Fehler logischerweise gar nicht gemacht werden können und daher für deren Behebung auch keine Ressourcen eingeplant waren.
Das Problem hatte damit der Endverbraucher, aber nicht mehr der Hersteller. Ungelernte Arbeiter bei der Herstellung und unausgebildetes Personal bei der Bedienung werden weiter zu hohen Ausfallquoten beigetragen haben – auch dies ist ein typisch sozialistisches Problem: Da alle Menschen -so die Ideologie- gleich sein sollen, kann es auch keinen Unterschied zwischen Facharbeitern und unausgebildeten Laien geben.

Interessant ist, daß zum Produktionsumfsang einzelner Typen in den 1920er und frühen 1930er Jahren (z.B. Komintern-Schlepper, AMO F-15) häufig sehr unterschiedliche Angaben zur jeweiligen Jahresproduktion vorliegen, ohne daß ein Grund dafür erkennbar wäre: Differenzen zwischen Produktion und Abnahme? Wurden möglicherweise generalüberholte Gebrauchtfahrzeuge als „Neuwagen“ gezählt, um ein Plansoll zu erfüllen? Wurde die Fertigung in bestimmten Fabriken nicht mitgezählt? Es önnen auch Differenzen zwischen Wirtschaftsjahr (1.10. bis 30.9. des Folgejahres) und Kalenderjahr teilweise ursächlich sein.

Quellen:
Informationen zum russischen Automobilbau flossen bis ca.1990 nur spärlich, weil alles Datenmaterial häufig in einer geradezu grotesken Art und Weise geheimgehalten wurde. Andererseits ist davon auszugehen, daß gerade in der Sowjetunion über den Umfang der Produktion genauestens Buch geführt wurde, da ja in der Planwirtschaft der Nachweis, daß das „Planziel“ erreicht war, d.h. eine bestimmte Anzahl von Sachen innerhalb einer bestimmten Zeitspanne hergestellt zu haben, von enormer Wichtigkeit war. So sind denn nach 1990 einige Werke zur russischen Automobilproduktion erschienen, die folgenden habe ich zu Gesicht bekommen und unter bewußtem Verzicht auf westliche Publikationen in erster Linie benutzt:
Artilleriskoje tjagatschi sowjetskoj armiji, Hefte 3/2002, 2/2005 und 5/2005 der Reihe „Bronekollekzija“, Moskau, behandelt alle russischen Ketten- und Halbkettenzugmaschinen (nicht nur für artilleristische Zwecke) bis  in die Zeit des kalten Krieges.
Awtomobili krasnoj Armii 1941-45, eine DIN-A4-Broschüre aus der Reihe „Bronekollekzija“, Moskau 2006, behandelt die vom russischen Militär 1941-45 eingesetzten Kraftfahrzeuge und erwähnt auch Gesamtproduktionszahlen, Produktionszahlen für einzelne Jahre jedoch nicht.
Daschko, Dimitri, Sowjetskije legkowye 1918-1942 (=Sowjetische PKW), Moskau 2012 (Daschko), stellt alle ab 1918 gebauten PKW-Typen (auch Prototypen) vor und enthält in einem Anhang (Seiten 218 ff) Produktionstabellen für die Zeit 1919 bis 1942, hierbei auch detaillierte Angaben zur jeweiligen Jahresproduktion der einzelnen Typen.
Daschko, Dimitri, Sowjetskije grusowiki (=Sowjetische LKW), Automobil-Archiv-Fond, Moskau 2014 (Daschko), enthält alle ab 1918 gebauten LKW-Typen, in einem Anhang (Seiten 218 ff) finden sich Produktionstabellen zu allen ab 1919 bis etwa Ende der 1940er Jahre  in der Sowjetunion produzierten LKW, hierbei auch detaillierte Angaben zur jeweiligen Jahresproduktion der einzelnen Typen. Seltsamerweise fehlen Zahlenangaben zum Sanitätsfahrzeug GAS-55 ab 1942, hier hilft wikipedia weiter.
Dupouy, Alain: Les tracteurs et engins speciaux chenilles Sovietiques, Tome I, Grenoble ca.1987  ist eine im Westen erschienene Übersicht über Rad-und Kettenschlepper und stützt sich seinerseits offenbar in erster Linie auf russische Quellen.
Dünnebier, Mich. u.Kittler, Eberhard: Personenwagen sozialistischer Länder. , Berlin (Ost) 1990 (DüKi), führt die PKW aller Warschauer-Pakt-Staaten auf. Der Schwerpunkt liegt naturgemäß bei der Produktion ab 1945, es wird aber auch die Vorkriegsproduktion erwähnt.
Kelly; Maurice A: Russian Motor Vehicles Vol.2, Dorchester 2011: Entgegen seinem Titel setzt sich das Buch nur mit den Fahrzeugen der Luxusklasse (SIS, SIL) auseinander und erwähnt die anderen ab 1930 gebauten kleineren PKW wie auch die LKW nicht. Es enthält stattdessen sonst im Westen seltene Informationen zum chinesischen Spitzenfunktionärswagen Hong-Qi und seiner Produktion von 1958-1995.
Kirindas, Alexandr: „Artillerijskij Tjagatsch Komintern“ Moskau 2017: Behandelt nicht nur den Artillerieschlepper Komintern, sondern auch seine Vorläufer (Holt 75, Bolschewik, Kommunar) und den Nachfolger Woroschilowjez und veröffentlicht zahlreiche auf die einzelnen Jahre heruntergebrochene Stückzsahlen.
Moorsteen, Richard: Prices of Tractors, Trucks and Automobiles, U.S.S.R., 1928-1949, U.S. Air Force Projet Rand Research Memorandum, Santa Monica, California, Juli 1953: Diese kurz vor Beendigung des Korea-Krieges entstandene Studie enthält einige Produktionstabellen, die bis 1937 vollständig sind und ab diesem Zeitpunkt durch das Kürzel „n.a. = not available“ glänzen: Offensichtlich hielten die Russen auch noch 15 Jahre später Angaben zum Produktionsumfang von Automobilen so streng geheim, daß nicht einmal die U.S. Air Force an diese Zahlen gelangen konnte. Inwieweit die veröffentlichten Zahlen zur jährlichen Produktion insbesondere zu Traktoren, die in mein Tabellenwerk in Ermangelung anderer Angaben eingeflossen sind, Potemkinsche Dörfer sind, wird die Zukunft zeigen, falls endlich einmal ein Russe Zahlen zur Traktorenproduktion veröffentlichen sollte.
Otetschestwennie bronirowannie maschini (= „inländische Panzerfahrzeuge“), 3 Bände, Moskau 2002, behandelt in den ersten zwei Bänden die Panzerfahrzeuge (Rad und Kette) bis 1945 und gibt auch sehr detaillierte Angaben zur Höhe der jeweiligen Jahresproduktion.
Schugorow, L.M.-, Awtomobili Rosii i SSSR, Bd.I, Moskau 1993, gibt eine gute Zusammenstellung der russischen Automobile von Anbeginn bis 1955. Die technischen Daten muß man sich allerdings mühsam aus dem Text zusammenklauben. Hilfreich ist eine Gesamtproduktionsübersicht nach einzelnen Jahren, aufgegliedert nach PKW/LKW/Busse, die jeweilige Jahresproduktion der einzelnen Typen fehlt jedoch für die Jahre nach 1930 meist. Insoweit ist Daschko (s.o.) zumindest, was die LKW anbelangt, eine gute Ergänzung.
Vollert, Jürgen, Tyagatshi, Erlangen 2005, ist eine Zusammenstellung der russischen Kettenschlepper der Kriegszeit.

Daneben wurden die Angaben aus dem Weltnetz (wikipedia.ru, avtomash.ru., autogallery.org.ru) verwertet, brachten aber zu den oben zitierten Quellen wenig weiteres Material. Es zeigte sich lediglich erneut, daß insbesondere in der englischen wikipedia häufig Dinge behauptet werden, die in russischen Quellen nicht oder nicht so zu finden sind. Ich schließe hieraus, daß infolge Sprachunkenntnis nach wie vor russische Quellen nicht herangezogen werden und stattdessen Fehlinformationen aus der Zeit des Kalten Krieges weiterhin hemmungslos verbreitet werden. Um dem zu steuern, habe ich mich im wesentlichen auf russische Quellen gestützt und billigend in Kauf genommen, daß darin so manches Potemkinsche Dorf versteckt sein mag.