6.) Besonderheiten in den USA
In den USA setzte der eigenständige Automobilbau –wie eigentlich in allen damaligen Staaten der Welt mit Ausnahme Deutschlands und Frankreichs- erst um das Jahr 1895 ein. Die Automobilproduktion nahm dann aber in relativ wenigen Jahren einen geradezu kometenhaften Aufschwung: Bereits 1909 wurden in den USA 122.289 PKW produziert und damit doppelt so viele wie in der ganzen übrigen Welt zusammen.
Über die Ursache dieses Phänomens ist viel geschrieben worden – und damit wahrscheinlich auch viel Unfug: So soll sich darin die Fortschrittlichkeit der USA gegenüber dem rückständigen Europa zeigen. Wer indessen, statt Fakten zu schildern, nur mit Werturteilen wie „fortschrittlich“ und „rückständig“ arbeitet, macht sich grundsätzlich verdächtig, nicht als Historiker, sondern lediglich als Propagandist tätig zu sein.
Wir kommen der Sache näher, wenn wir als Vorgänger des Automobils das Pferd –als Reit- und Zugpferd- betrachten. Der damalige Pferdebestand der Welt ist im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich 1905 –also in den Kinderjahren des Automobils- veröffentlicht. Rechnet man ihn um auf die damalige Bevölkerung, so kommt in Deutschland, Frankreich und Österreich-Ungarn auf etwa 13 bis 14 Menschen ein Pferd, in Großbritannien (ohne Kolonien!) auf 20 Personen eines, in Italien auf 43 Personen, in den USA indessen entfällt auf 4,6 Personen ein Pferd. Dieser Pferdereichtum wird nur in Australien übertroffen: Dort teilen sich 2 Personen ein Pferd. Das Nächstliegende wäre es, hieraus auf einen besonderen Reichtum in den USA zu schließen. Wer dies ungeprüft tut, hat zu viele Courts-Mahler-Romane gelesen: In diesen Romanen kommt regelmäßig der reiche Erbonkel aus den USA, der dort seine Millionen gemacht hat, und bringt , wenn die Not der Liebenden am größten ist, ihnen das nötige Geld, um sie glücklich zu machen.
Indessen fällt anhand der gleichen oben zitierten Statistik auf, daß auch im europäischen Rußland auf 5-6 Personen ein Pferd kam, und auch in Bulgarien kam auf 7,5 Personen ein Pferd. Weder Rußland noch Bulgarien sind aber typische Herkunftsländer für reiche Erbonkel, insbesondere Bulgarien dürfte 1905 zu den ärmsten Ländern Europas gehört haben. Pferdereichtum hat also mit allgemeinem Wohlstand nichts zu tun.
Die Ursache des Pferdereichtums 1905 liegt also an anderer Stelle: Rußland, die USA, Australien und letztlich auch Bulgarien sind sehr dünn besiedelte Länder. Während im dicht besiedelten Mittel- und Westeuropa ab etwa 1850 ein immer dichteres Eisenbahnnetz dafür sorgte, daß Menschen problemlos weite Entfernungen überwinden konnten – 1905 gab es in Deutschland kaum noch eine Stelle, die weiter als 5 km von der nächsten Eisenbahn entfernt war- rentierte sich die Anlage von Eisenbahnstrecken in dünn besiedelten Gegenden nicht: Es wäre zu kostspielig und damit unwirtschaftlich gewesen, für diese wenigen Menschen ein engmaschiges Eisenbahnnetz zu bauen. Dort war man also auf andere Mittel angewiesen, wenn man die viel weiteren Entfernungen überwinden wollte.
Es ist also nicht der Reichtum, der den Menschen die Pferdehaltung ermöglichte, sondern wirtschaftliche Notwendigkeit, die sie dazu zwang. In Zentraleuropa konnte man preiswert mit der Eisenbahn reisen und Güter transportieren und dementsprechend sein Vermögen in den Ausbau der eigenen Wohnstätte investieren, die in den USA häufig nur eine erbärmliche Bretterbude war: Die amerikanischen GIs staunten 1945 nicht schlecht, als sie die reichen deutschen Bauernhöfe sahen: So etwas kannten sie aus ihrer Heimat nicht.
Infolgedessen waren es verkehrstechnisch-wirtschaftliche Gründe, die bereits vor 1900 den Amerikaner sich in viel größerem Maße als den West- und Mitteleuropäer an das Pferd als ursprüngliches Transportmittel des Individualverkehrs gewöhnen ließen.
Der Automobilverkehr entstand zunächst in den großen Städten. Dies muß auch in den USA so gewesen sein: Auf dem Lande war das Wegenetz für Automobile viel zu schlecht. Die amerikanische Stadt ist indessen völlig anders strukturiert als die europäische: Es gibt in der europäischen Stadt ein recht kleines mittelalterliches Zentrum, mit mehrgeschossigen Häusern bebaut. Um dieses Zentrum zieht ein größerer Ring von im 19. Jahrhundert entstandenen Wohn- und Kleingewerbegebieten, ebenfalls mit mehrgeschossigen Häusern. Jenseits dieses Ringes setzt irgendwann nach 1900 eine weitere Bebauung mit Einfamilienhäusern ein.
Die amerikanische Stadt indessen hat ein Zentrum, das bereits um 1900 mit sehr hohen Hochhäusern –„Wolkenkratzern“ – bebaut war. Rund um dieses Zentrum ziehen sich endlose Siedlungen mit Einfamilienhäusern, die im 19.Jahrhundert in Europa entstandene großflächige Mehrfamilienhausbebauung fehlt dagegen: So entnehmen wir dem Brockhaus von 1908, daß um 1900 z.B. Philadelphia bei damals etwa 1,4 Mio. Einwohnern 331 qkm umfaßte, New York mit 3,5 Mio. Einwohnern 770 qkm, Chikago mit 2 Mio. Einwohnern 494 qkm. Auf dem qkm der amerikanischen Großstadt lebten also im Schnitt etwa 5.000 Menschen.
Berlin hatte zur gleichen Zeit 2 Millionen Einwohner, umfaßte aber nur 63 qkm, also lebten auf einem qkm 31.746 Menschen, Paris hatte 78 qkm Fläche und 2,7 Mio. Einwohner, also 34.615 Menschen pro qkm. Die Großstädte waren also in Europa viel dichter besiedelt, es lohnte sich daher, für den Transport Straßenbahnen einzusetzen. In den weitläufigen amerikanischen Städten mit ihren riesigen Wohngebieten mit Einfamilienhäusern rentierten sich Massentransportmittel wie Straßenbahnen dagegen nicht. Wer hier die zwangsläufig viel größeren Strecken zum Stadtzentrum zurücklegen wollte, mußte sich also ein Pferd halten. Für ihn war das Auto schnell eine preisgünstige Alternative, da es im Gegensatz zum Pferd nur dann „Nahrung“ (nämlich Treibstoff) brauchte, wenn es tatsächlich bewegt wurde – ein Umstand, auf den die Automobilindustrie bald werbend hinwies. Hinzu kam, daß Pferdefutter viel voluminöser war als Benzin, ein Auto keinen Mist produzierte, der wieder irgendwohin entsorgt werden mußte, und daß Erdöl in den USA in großen Mengen vorhanden war, während es in Europa aus dem Ausland importiert werden mußte.
So fiel der Umstieg vom Pferd auf das Auto in den USA leichter. Der dann einsetzende Effekt: Das Auto wird in größeren Stückzahlen hergestellt, je größer die Stückzahl, desto geringer die Kosten für das Einzelstück, je geringer die Kosten des Einzelstücks, umso mehr Käufer, desto mehr Käufer, umso größer wieder die Stückzahl – ist in zahlreichen Werken bereits beschrieben, sodaß hier nicht mehr darauf eingegangen werden braucht.
Bemerkenswert ist lediglich, daß es Henry Ford schon sehr früh – nämlich 1907 – bereits gelungen ist, mit dem Model T ein Auto zu schaffen, das von derart hoher Qualität war, daß es zwanzig Jahre lang unverändert gebaut werden konnte, und damit auch qualitativ europäischen Autos häufig überlegen war – selbst wenn dies natürlich die Automobilwerke in Europa heftigst bestritten. Er hat das wohl unter anderem dadurch geschafft, daß er ein Auto mit recht großem Hubraum (2,9 Liter) und dafür recht geringer Leistung (20 PS) schuf. In Europa wurde zur gleichen Zeit (um 1907) allenthalben eine recht hohe Kraftfahrzeugsteuer eingeführt, die sich nach dem Hubraum des zu besteuernden Fahrzeugs (in Großbritannien nur nach der Bohrung) bemaß. Das führte dazu, daß die europäischen Hersteller bestrebt waren, Autos mit möglichst kleinem und damit steuergünstigem Motor anzubieten. Diese kleinen Motoren gerieten natürlich viel früher an ihre Leistungsgrenzen als die großen amerikanischen und waren deshalb schneller verschlissen.