Rußland – Kraftfahrzeuge bis 1918
Die Automobilproduktion im Rußland der Zarenzeit war kläglich. Eine offizielle Statistik der Gesamtproduktion ist mir nicht bekannt, die Addition aller produzierten Fahrzeuge ergibt etwa 1.500 Stück, die tatsächlich produzierte Anzahl wird um vielleicht maximal 100 – 200 Fahrzeuge darüber gelegen haben. Hinzu kamen Montagen von aus dem Ausland in Teilen gelieferten Fahrzeugen (AMO, Lebed) in Höhe von ebenfalls ca. 1.500 Stück.
Literatur:
Kelly, Maurice A.:Russian Motor Vehicles – The Czarist Period 1784 to 1917, Dorchester, England, 2009: Das Buch beginnt mit der Vorstellung einiger Dampfkraftwagen aus dem 18./19.Jhd., bevor es sich der Produktion benzingetriebener Kraftfahrzeuge widmet. Der Autor schöpft offenbar aus russischen Quellen, die aber ausweislich des Literaturverzeichnisses alle vor 1990 erschienen sind, und behandelt diese sehr unkritisch.
Bei den Firmen fällt die hohe Anzahl deutscher Namen auf und zeigt, welchen hohen Anteil an der Intelligenz (hier: Ingenieure) Deutsche im Zarenreich stellten. Im einzelnen gab es die folgenden Werke, die sich zeitweise dem Automobilbau widmeten:
Rußland – Kraftfahrzeuge bis 1918, Tabelle
Aksaj, Rostow a.Don: Die auf Landwirtschaftsmaschinen spezialisierte Firma in Rostow am Don produzierte 1903 (oder 1903-04?) einen Oldsmobile Curved Dash-Nachbau in 20 Exemplaren.
AMO, Moskau: Die italienischen FIAT-Werke begannen ab 1915, in großen Mengen (Tausende jährlich!) ihren leichten LKW F-15ter nach Rußland zu exportieren. Hieraus resultierte der Plan für ein Zweigwerk in Moskau, das 1917 (und nicht erst 1924, wie in vielen Quellen fälschlich berichtet) die Produktion aufnahm und wo bis 1919 immerhin 1.319 LKW des Typs FIAT 15ter aus aus Italien importierten Teilen montiert wurden.
Dux, auch Duks geschrieben, Moskau: Die Firma baute von 1904-06(oder 1905-07?, oder 1902-06/7?) den Oldsmobile Runabout in Lizenz: Nach Kelly 200 Stück, was mir jedoch etwas hoch erscheint, ich habe (wie auch andere) die Hälfte davon angenommen. Das Werk baute in der Folgezeit noch weitere Kraftfahrzeuge (meist wohl Einzelstücke) mit kaum überlieferten technischen Daten und widmete sich ab 1910 dem Flugzeugbau, im 1. Weltkrieg und danach war es Rußlands größtes Flugzeugwerk.
Jakowlew & Freese, St.Petersburg: Kutschenbauer, der erste russische Automobilhersteller. Die in der russischen Hauptstadt St.Petersburg ansässige Firma produzierte 1896 wohl nur ein Einzelexemplar (Benz-Kopie) und später –nach dem Ausscheiden von Jakowlew nur noch unter dem Namen Frese- von 1902-04 in 20 Stück einen Kleinwagen mit De-Dion-Einzylinder-Motor, widmete sich dann wieder dem Kutschen- und Karosseriebau.
Juschkow (Yushkov), St.Petersburg: Bau eines Cyclecars, nicht in Serie gegangenes Einzelexemplar, im Jahre 1915.
Korvensuu, Mynämäki: Die Firma Korvensuu im damals zum Zarenreich gehörenden Finnland, die Landmaschinen herstellte, baute im Jahre 1912 ein Automobil, um den hohen Standard ihrer Erzeugnisse zu zeigen. Es blieb bei diesem Einzelstück, das gleichzeitig das erste finnische Auto war und bis heute in funktionsfähigem Zustand erhalten geblieben ist. Es kann heute im Museum von Uusikaupunki (Nystad in Finnland) besichtigt werden.
Lebed: Die Firma, ansässig in Jaroslawl, bekannt für ihre Flugzeuge, nahm 1916 den Bau von Kraftfahrzeugen auf. Es entstanden rund 200 Karosserien und Fahrerhäuser für einen nicht genauer beschriebenen Fiat-LKW-Typ, möglicherweise die im Lebenslauf des Firmengründers Lebedew erwähnten Ambulanzen und damit des Fiat 15-ter, da Sanitäts-LKW üblicherweise auf leichten LKW montiert sind. Lebedew erwarb außerdem von der englischen Firma Crossley die Lizenz zum Nachbau des 20/25HP bzw. 1,5to Tender sowie einige Einzelteile hierfür im Jahr 1917. Inwieweit hier nur die gekauften Teile zusammengebaut wurden oder es tatsächlich zu einer Lizenzproduktion kam, geht aus den Quellen nicht hervor. Im Rahmen des Bürgerkrieges schlug sich Lebedew auf die weißrussische Seite und emigrierte 1919/20 nach Paris. Das Werk in Jaroslawl war nach dem ersten Weltkrieg zunächst nur Reparaturwerkstatt, ab 1925 begann unter dem Namen Jaroslawl Awtomobil Sawod (JaAS)der Bau mittlerer und schwerer LKW.
Leitner/Leutner: Farradfabrik in Riga (Kurland), produzierte 1899-1901 ein Dreirad (De-Dion-Lizenz oder Nachbau), 5 Stück im Jahr 1899. Ab 1901 wurden in Lizenz Fahrzeuge der deutschen Firma Cudell hergestellt, nach Kelly etwa 10 pro Jahr, bis maximal 1906/7 (Cudell selbst existierte nur bis etwa 1906 und war seinerseits Lizenznehmer bei De Dion). 1911 Bau einiger Vierzylinderwagen mit Motoren aus Deutschland, auch Clement-Bayard wird genannt: Es scheint sich insoweit um eine Art Montagebetrieb für in Teilen importierte Autos gehandelt zu haben. Ca.1911/12 Einstellung des Automobilbaues. Die Fahrradproduktion wurde weiterbetrieben und 1915 kriegsbedingt nach Charkow verlagert, wo sie noch 1929 (allerdings ohne Leitner, der in Süditalien starb) weiterlief.
Lessner, St.Petersburg: Stellte von 1905-09 (oder bis 1910?) einen Klein-LKW mit 1,5Liter-Zweizylinder-Motor in verschiedenen Nutzlastklassen sowie PKW verschiedenster Größen her, insgesamt soll die Produktion etwa 100 Fahrzeuge, davon 70 PKW, umfaßt haben.
Lidtke, St.Petersburg: Bau eines Kleinwagens, Einzelexemplar, im Jahre 1901.
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Mamin, Katharinenstadt (später Marxstadt in der Wolgadeutschen SSSR): Bereits 1912-14 produzierte ein gewisser Mamin eine landwirtschaftliche Arbeitsmaschine und nannte sie „Russkij Traktor“. Sie hatte äußere Ähnlichkeit mit diversen amerikanischen Vorkriegsmodellen (z.B. Advance-Rumeley) und wurden mit 25 oder 45 PS-Motor ( vermutlich einem 25/45 PS-Motor, also 25 PS an der Riemenscheibe und 45 PS an der Achse) in einer Anzahl von insgesamt vier Stück (avtomash.ru) oder 10 Stück (Kelly) gebaut.
Nakaschidze: In Warschau (damals zu Russisch-Polen gehörend) lebender Georgier, bekannt für seine Entwürfe für gepanzerte Automobile, die von Charron (Frankreich) für Rußland ab 1905 gebaut wurden. Möglicherweise unter seiner Leitung Bau des IHC J-30 ab 1911, Nachbau oder Lizenz, Stückzahl unbekannt.
Phoenix: Mindestens ein Exemplar eines Sattelschleppers für 10 to Nutzlast im Jahr 1915, möglicherweise Garford-Lizenz. Inwieweit Serienbau erfolgte, ist unbekannt.
Putilow-Kegresse, St.Petersburg: Kégresse, ein Chauffeur des Zaren, entwickelte ein auch im winterlichen Schnee einsetzbares Halbkettenfahrzeug, von dem in den Jahren 1917-18 etwa 30 Exemplare produziert wurden und in den Putilow-Werken eine Panzerkarosserie erhielten. Infolge der russischen Revolution verließ Kégresse 1919 das Land, In Frankreich verbesserte er in Zusamenarbeit mit Citroen in den Zwanzigerjahren seine Konstruktion, dort entstanden bei Citroen ab 1924 nach diesem Grundmuster über 5.000 Halbkettenfahrzeuge.
Pusyrew (auch: Pusyrev), St.Petersburg: Produzierte zwischen 1900 und 1902 ein Kraftfahrzeug mit unbekannten Daten in etwa 5-6 Exemplaren, stellte dann den Automobilbau vorläufig ein, um ihn dann 1911 wieder aufzunehmen und bis Jan.1914 immerhin 38 Exemplare großer Automobile der Oberklasse herzustellen, ehe die Firma nach einem Fabrikbrand endgültig den Automobilbau einstellte, zumal auch der Firmenbesitzer ein halbes Jahr später starb.
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Russo-Baltique, Riga, auch Russo-Balt und RBWZ (Russo-Baltiskij Waggonij zawod = Russisch-Baltische Waggon-Fabrik) genannt: Maschinenfabrik, ab 1909 auch Automobilbau: Zunächst der belgische Fondu 24/30CV als „Typ S“, wobei bis September 1915 insgesamt 347 Stück dieses Modells in verschiedenen Varianten hergestellt wurden. (Soweit er in der englischen wikipedia als „Typ C“ bezeichnet wird, zeigt dies, daß der englische Autor das kyrillische S, das wie ein C geschrieben wird, nicht lesen konnte.) Im September 1915 wurden wegen Anrückens der deutschen Armeen die Produktionsanlagen von Riga nach Petersburg bzw. Fili b. Moskau verlegt. Einige seltene Photos hier.
Typ K: Ergänzte das PKW-Angebot nach unten, Fertigung: 141 Stück von 1909-14 gebaut,
Typ E: Herstellung von 1914-5 in 71 Exemplaren.
Typ 40/60 PS: nur wenige Stücke (Einzelexemplar?) 1911-12
Lastkraftwagen:
Typ D,Eintonner-LKW, gebaut von 1912-15 in 27 Exemplaren,
Typ M, Zweitonner, 19 Stück von 1912-1915 gebaut
Typ T, schwerer LKW, Produktion 20 Stück von 1913-15
Statt der obigen Summe von 625 Stück (nach Schugorow) gibt Kelly nur 461 an, dazu 299 LKW (offenbar unter Berufung auf eine Publikation von Isajew von 1961). Insgesamt sollen nach der gleichen Quelle bis 1919 rd.1.200 Kraftfahrzeuge hergestellt worden sein, also nach Sept.1915 noch ca. 440 Stück, jedoch keinerlei LKW mehr: Mir scheint die Aufstellung bei Schugorow schlüssiger, zumal er auch 1993 freier publizieren konnte als Isajew im Jahr 1961. Für die Zeit ab 1915/6 (Petersburger Produktion) gibt Schugorow keinerlei Zahlen an, sodaß ich insoweit auf die Behauptungen von Kelly bzw.Isajew angewiesen war.
Bei der mutmaßlichen Verteilung der Produktion über die Jahre ließ ich mich von der Überlegung leiten, daß die leichten LKW wohl eher in Friedens-, die schweren LKW eher in Kriegszeiten benötigt und gebaut wurden.
Panzerautos: Diese waren eine Spezialität des russischen Heeres. Bereits 1905 hatte das Zarenreich bei Charron in Frankreich drei Panzerautos nach Entwürfen von Nakaschidze (s.o.) bestellt, zwei davon aber dann nicht abgenommen, weitere wurden möglicherweise in der Folgezeit bestellt und geliefert (sh.Charron, Frankreich). Ab Kriegsbeginn 1914 erhielten eine Vielzahl von LKW, aber auch schweren PKW, die entweder neu geliefert oder als Gebrauchtwagen für das Heer beschlagnahmt wurden, meist bei Putilow oder Ishorsk in Petersburg einen Panzeraufbau mit häufig einem oder zwei MG-Türmen. Es handelt sich damit um Umbauten bestehender Fahrzeuge und nicht um eine Neuproduktion, sie müßten hier also nicht erwähnt werden und sind daher auch bei der Feststellung der Gesamtproduktion nicht berücksichtigt. Wenn sie trotzdem hier aufgelistet sind, geschieht dies deswegen, um die Bedeutung dieser Automobile im russischen Heer aufzuzeigen: Während in Rußland knapp 600 Panzerautos (nicht: Kettenpanzer oder Tanks!) produziert wurden, waren es in Großbritannien unter 400, in Frankreich 150 Peugeot und 100 Renault, und in anderen Staaten noch weniger (Deutschland: 15 Stück).
Die Autos der Firmen, von denen ganze Serien zu Panzerautos umgebaut wurden, sind hier aufgeführt, von zahlreichen weiteren Firmen wurden einzelne Exemplare entsprechend umgerüstet. Grundsätzlich gab es an der russischen Front, die ja immer wieder Phasen des Bewegungskrieges erlebte, für diese Autos durchaus Einsatzmöglichkeiten. Umso erstaunlicher ist der Umstand, daß ich in keiner deutschen Regimentsgeschichte einen Bericht über einen Einsatz solcher Fahrzeuge oder das Photo eines erbeuteten Panzerwagens gefunden habe. Auch die sonst veröffentlichten Photos zeigen eigentlich immer diese Autos nach 1917 im Besitz irgendwelcher Rotarmisten, die sie mit revolutionären Parolen bemalt haben. Waren sie wirklich nur im Heimatgebiet, bestenfalls in der Etappe eingesetzt, um die eigene Bevölkerung in Schach zu halten?
Rußland – Kraftfahrzeuge bis 1918, Tabelle